Foto: Joerg Metzner
Bei der Jubiläumsgala zur 20. Ausgabe des IKARUS Theaterpreis wurden am Freitagabend, 11. November von 18-22 Uhr im GRIPS Theater, die herausragenden Berliner Theaterinszenierungen für Kinder und Jugendliche gekürt. Dabei entschieden eine Fachjury und eine Jugendjury unabhängig voneinander und zeichneten dennoch die gleichen Gewinner aus. In der Kategorie Kindertheater gewann „Drachenblut und Blümchenpflaster“ vom Theater Zitadelle Berlin. In der Kategorie Jugendtheater wurde die Inszenierung „Selfie“ vom GRIPS Theater ausgezeichnet. Beide Theaterhäuser dürfen sich so über ein Preisgeld von je 10.000 € freuen . Die Jubiläumsgala fand in Anwesenheit von Aziz Bozkurt (Staatsekretär für Jugend und Familie) und Schauspieler Axel Prahl statt, der seit 20 Jahren Schirmherr des IKARUS ist.
Das IKARUS-Jahr 2022 war in mehrfacher Hinsicht etwas Besonderes. Im Jubiläumsjahr der 20. Preisverleihung war so viel neues Theater wie nie zuvor für junges Publikum zu erleben. Die zu zwei Dritteln neu besetzte Nominierungsjury sichtete an 26 Berliner Theatern die enorme Anzahl von 83 Premieren, mehr als doppelt so viele wie in den Vorjahren. Aus diesen gesichteten Premierenproduktionen wurden vier Inszenierungen aus dem Bereich Kindertheater und fünf aus dem Bereich Jugendtheater nominiert, die sich allesamt im Rahmen der Gala präsentierten.
Weiter Höhepunkte der IKARUS-Gala boten die sehr politischen und die gesellschaftliche Aufgabe des Kinder- und Jugendtheaters betonenden Grußworte des Schirmherren Axel Prahl sowie des Gastgebers Philipp Harpain sowie das musikalische Rahmenprogramm mit DJ Kaye Kayani sowie Live Acts aus der GRIPS-Produktion „Das schönste Mädchen der Welt“. Die Gala wurde kompetent und charmant moderiert von der Theater- und Filmschauspielerin Bettina Grahs. Von großem Applaus wurde das Auftreten und die Preisreden der Jugendjury begleitet, die dem jungen Publikum eine unmittelbare und sehr sympathische Stimme verliehen.
„Wir, die Ikarus-Jugendjury, haben uns dafür entschieden, dieses Jahr „Drachenblut und Blümchenpflaster“ als bestes Kinder-Theaterstück auszuzeichnen. Es wird auf den beiden Bühnen des Theaters Zitadelle Berlin aufgeführt. Das Stück besteht aus zwei Handlungssträngen, bei dem einen handelt es sich um die Geschichte von zwei Wächtern, welche ein Theater bewachen. Bei dem zweiten Handlungsstrang geht es um Zwillinge, die ihre Eltern aus der Erstarrung retten müssen, in welche der Sohn sie verzaubert hatte. Die zwei Stränge kann man gut trennen, da es ausschließlich bei dem zweiten Strang zum Einsatz von Puppen kam. Die gute Unterscheidung der beiden Geschichten ermöglicht den dauerhaften Wechsel zwischen diesen beiden, ohne das Verwirrung im Publikum auftritt. Durch diesen Wechsel wirkt das Stück lebendig und bleibt über die ganze Zeit hinweg spannend. Auch die Geschichte an sich ist höchst unterhaltsam.
Das Stück ist voller Witz, es gab viele Momente bei denen das Publikum und auch wir lachen mussten. Durch das Spielen mit Stereotypen und Geschlechterrollen gelang dabei auch das Kombinieren einer Moral mit Humor, das rief sicher einen Denkanstoß bei vielen hervor. Das wurde auch für die jüngeren altersgerecht aufgegriffen. Zudem gab es in die Geschichte verarbeitete Fakten, zum Beispiel zum Mittelalter, auch dadurch entstand ein Lerneffekt.
Positiv fiel uns auch das kreative Bühnenbild auf und der Umgang damit durch die Schauspieler*innen. Die Geschichte wurde damit sehr gut transportiert und war sehr verständlich. Die Bühne wirkte nicht zu voll, allerdings auch nicht zu leer, wodurch der Fokus trotzdem immer auf den Schauspieler*innen bleiben konnte, weil es keine Irritation gab, aber auch keine ewig langen Dialoge ohne Bewegung auf der Bühne.
Außerdem sind die schauspielerischen Leistungen ebenfalls eine Erwähnung wert. Die zwei Wärter, die ebenfalls mit den Puppen spielten, waren so gut, dass das Stück mitreißend wurde. Sie waren überzeugend und selbst als dann einmal etwas schiefging, wurde so gut improvisiert, dass man sich nicht einmal mehr sicher war, ob es wirklich ein Missgeschick oder gewollt war.
Das beste von allem war allerdings, dass das Stück, obwohl es eine Altersempfehlung für Personen ab fünf Jahren hatte, doch etwas für Menschen jeden Alters ist. Das Stück überzeugt durch seine Vielschichtigkeit, dadurch kann jeder und jede ihm etwas abgewinnen. Der eine versteht ein bisschen mehr als die andere, doch beide haben Spaß beim Zuschauen. Genau darin liegt die Genialität dieses Stückes.
Am Ende waren es allerdings alle genannten Aspekte zusammen, aufgrund derer wir die Entscheidung getroffen haben, dass dies das beste Kindertheaterstück des Jahres ist. Wir würden es allen empfehlen, sich dieses Stück anzusehen, denn „Drachenblut und Blümchenpflaster“ funktioniert über die schöne Geschichte und seinen Humor für Personen jedes Alters. “
Eine Ritterrüstung und zwei Wachmänner, die darauf aufpassen. So einfach ist das Setting. Doch daraus entwickelt sich alsbald ein buntes Abenteuer. Die Wachmänner finden Puppen und ein Programmheft und lassen sich sich von den Kulissen und Figuren eines Puppentheaters schnell in spielende Kinder verzaubern. So erzählen Michael Schwager und Daniel Wagner eine klassische Rittergeschichte mit allem Drum und Dran von schaurigen Drachen über fiese Schurken bis zu scharfen Schwertern. Die Rüstung selbst wird zur Bühne – liebevoll gestaltet von Ralf Wagner.
Doch ist das wirklich eine „klassische Rittergeschichte“? Nein, denn hier ist zum Glück nichts wie gedacht: Das scharfe Schwert schwingt nicht der tapfere Ritterjunge, sondern seine Schwester, die sich viel mehr fürs Ritter-Dasein interessiert. Die fiesen Schurken brechen in Tränen aus, und die schaurigsten Drachen brauchen mal ein Pflaster – am liebsten eins mit „Sponge Bob“ drauf.
Während die beiden Securityleute eine Ritter- nein - eine Ritterinnengeschichte erzählen, wird alles, was wir vermeintlich über das Mittelalter wissen, über den Haufen geworfen: Warum dürfen Mädchen keine Ritterinnen sein? Warum sollte der tapfere Turniersieger statt der versprochenen Prinzessin nicht einfach den schicken Jägermeister heiraten? Lässt sich jedes Problem rittertypisch mit Gewalt lösen oder doch vielleicht im Dialog? Mit viel Charme, Witz und Leichtigkeit verhandelt das Stück Genderfragen, sexuelle Orientierung, Rollenklischees und Zuschreibungen.
Und während sich die Wachmänner immer weiter in ihre erdachte Rittergeschichte hineinspielen, stellen sie fest: Auch sie selbst stecken in so manchen Rollenklischees fest und fangen an diese zu hinterfragen: Muss der eigene Sohn wirklich Fußball spielen statt im Wald spazieren zu gehen, was er viel lieber möchte? Darf man als Wachmann auch mal Schwäche zeigen?
Rahmenhandlung und Rittergeschichte sind geschickt und temporeich ineinander verzahnt: Das Spiel im Spiel eröffnet Daniel Wagner und Michael Schwager die Möglichkeit, sich selbst und ihr Handeln zu reflektieren – als Wachmänner, aber auch als Figurenspieler. So werden mit einem Ritter - nein Entschuldigung – einem Ritterinnenstück nicht nur aktuelle Themen aufgegriffen und auf humorvolle Weise wie selbstverständlich vermittelt, sondern auch das Genre Puppenspiel und die Zuschauer*innen humoristisch unter die Lupe und aufs Korn genommen.
Mitfiebern, Mitlachen und Mitdenken machen eine riesige Freude – für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Denn egal welches Alter - die Inszenierung reißt alle mit. Da wundert es auch nicht, dass Jugendjury und Fachjury in diesem Jahr dieselbe Inszenierung in der Kategorie Kindertheater auszeichnet. Hier ist nicht nur Drachen- sondern vor allem viel Herzblut im Spiel.
Die Fachjury gratuliert dem Theater Zitadelle Berlin daher von ganzem Herzen zum IKARUS 2022!
Wir waren schon bei der Nominierung überrascht und haben uns total gefreut.
Als wir bei der wirklich schönen Preisverleihung tatsächlich den Ikarus Preis der Jugendjury erhielten, war die Freude groß.
Die Jugendjury sagte unter anderem:
„Das Stück überzeugt durch seine Vielschichtigkeit, dadurch kann jeder und jede ihm etwas abgewinnen. Der eine versteht ein bisschen mehr als die andere, doch beide haben Spaß beim Zuschauen. Genau darin liegt die Genialität dieses Stückes.“
Solche Worte bestätigen uns in unserer Arbeit, wer hört nicht gern, dass seine Schöpfung genial ist.
Wir lehnten uns an dem Abend zurück und waren glücklich und zufrieden, besser geht’s ja wohl nicht.
Aber es ging noch besser, als uns auch die Fachjury auszeichnete waren wir völlig fassungslos und konnten es nicht glauben. So viel Erfolg für die Arbeit, für das Ringen um ein Stück, das so leichtfüßig daherkommt. Aber jeder weiß, dass vor der Leichtigkeit die Arbeit kommt.
Das wurde auch erkannt. Unser Konzept: für Kinder Theater machen, das auch die Erwachsenen interessiert und für die Erwachsene Theater machen, die sich an ihr Kindsein erinnern.
Aus der Fachjury-Begründung:
„Im Stück werden auf komische und doch selbstverständliche Weise nicht nur Rollenbilder des klassischen Märchens gebrochen, auch die Spieler hinterfragen sich selbst. In märchenhafter Ausstattung hervorragend erzählt, entwickeln die beiden eine Spielfreude, die ihresgleichen sucht.“
Herzliche Glückwünsche an die Preisträger vom GRIPS Theater und an alle anderen Nominierten, die die Preise auch verdient hätten.
Die Spieler: Michael Schwager und Daniel Wagner sowie alle Beteiligten an der Produktion und das gesamte Team des Theaters bedanken sich bei der Jugendjury und der Fachjury für die beiden Auszeichnungen und das damit verbundenen Preisgeld.
Vielen Dank an den JugendKulturService für die schöne Preisverleihungsfeier und an alle, die den schönen Abend gestaltet und möglich gemacht haben.
Regina Wagner, Puppenspielerin und Leiterin des Theaters Zitadelle Berlin
Wir haben uns entschlossen „Selfie“ vom GRIPS-Theater als bestes Jugendtheaterstück auszuzeichnen. Es handelt von einem Mädchen namens Emma, die in den großen Bruder, Chris, ihrer besten Freundin, Lily, verliebt ist. Auf einer Party kommen sie sich näher, sogar sehr nah, doch Emma kann sich am nächsten Morgen nicht erinnern, was passiert ist. Das einzige was sie weiß, sie wollte keinen Sex. Es wird die Polizei eingeschaltet, diese beginnt Fragen zu stellen und Emma ist sehr unsicher und verzweifelt mit dem was passiert ist. Es entstehen Konflikte, zu den die Figuren unterschiedlich stehen und damit aufeinander treffen. Und auch wenn Chris eigentlich keine bösen Absichten hatte, hat er Emma verletzt und etwas falsches getan.
Dieses Stück ist voller moralischer Fragen, es regt zum Nachdenken an und bezieht dabei alle Perspektiven ein. Die Handlung wird verständlich und offen dargelegt, dadurch kann man ein Urteil über die Situation fällen und erkennt, was alles falsch gelaufen ist. Obwohl ein gewisser Freiraum für die eigene Ansicht zur Situation eingeräumt wird, ist trotzdem klar: Man darf über seinen Körper immer selbst bestimmen. Wir haben es so verstanden, dass das Stück uns zeigen möchte, dass nur ein ja auch ein ja ist und man sich immer versichern muss, ob das Gegenüber auch soweit gehen möchte, wie man selbst. Jemandem den Anspruch auf Selbstbestimmung über seinen eigenen Körper zu nehmen, dazu hat niemand das Recht und man muss mit sehr harten Konsequenzen rechnen, wenn man es trotzdem tut. Die Moral war demzufolge von großer Bedeutung.
Die Emotionen der Figuren werden klar und das nicht zuletzt aufgrund der überragenden Schauspieler dargestellt. Man wird in die Geschichte hineingezogen und fühlt selbst mit - das verstärkt noch einmal die Wirkung der Moral.
Trotz des so harten Themas, ist es nicht nur lehrreich sondern auch spannend, sich das Stück anzusehen. Man weiß nicht was als nächstes passieren soll, denn die Figuren haben selbst keine Ahnung, dieses Unwissen und die Unsicherheit, werden gut transportiert. Außerdem arbeitet „Selfie“ ganz stark mit Empathie, wir fühlten mit Emma mit, ihre Verzweiflung mit der Situation sprang auf uns über.
Als besonders herausragend empfanden wir die Bühnen- und Kostümgestaltung, insbesondere den Umgang mit dem, in einem Halbkreis hängenden, Vorhang. Auf diesen wurden während des Stückes Bilder projiziert, wodurch es zu mehr Bewegung kam und so auch dazu, dass die Konflikte deutlicher wurden. Die Kostüme waren farblich aufeinander abgestimmt, das war erst einmal angenehm zum Ansehen, aber hatte vermutlich ebenfalls eine tiefere Bedeutung. Die wir so verstanden haben, dass die Figuren sich von außen nicht stark voneinander unterscheiden, sie kommen aus der gleichen Gegend, gehen auf die gleiche Schule, sind innerhalb der Gesellschaft gleichgestellt etc. Doch in ihnen drin, sieht es sehr unterschiedlich aus.
Abschließend wollen wir sagen, dass wir allen sehr ans Herz legen, sich „Selfie“ anzusehen. Es ist ein Thema, zu dem man nicht sehr häufig ein Jugendtheaterstück sieht und das macht es um so wichtiger. Wenn man wieder herauskommt, hat man etwas dazu gelernt, was größte Bedeutung hat.
Es ist in der Geschichte des IKARUS noch nie vorgekommen, dass die Jugendjury und die Fachjury dieselbe Inszenierung ausgezeichnet haben. So wie es ja generell kein Standard ist, dass junge und erwachsene Menschen die gleichen Ansichten teilen. Also: Stimmt hier etwas nicht?
Keineswegs. Wir haben es nur mit einem außergewöhnlichen Fall zu tun. „SELFIE“ – die GRIPS-Theater-Inszenierung, der auch wir den IKARUS als herausragende Produktion im Bereich Jugendtheater verleihen – verhandelt ein Thema, von dem sich alle angesprochen fühlen können. Und sollten. Es geht um das, was im Englischen consent heißt. Die Zustimmung, das Einverständnis, die Übereinkunft.
Die kanadische Autorin Christine Quintana, von der das bereits mehrfach preisgekrönte Stück „SELFIE“ stammt, hat in einem Interview den Wunsch geäußert, dass die Zuschauer*innen aller Altersklassen nach den Aufführungen ihre eigenen Beziehungen genau daraufhin zu befragen beginnen: Werde ich so behandelt, dass meine Grenzen respektiert bleiben? Und handele ich vielleicht selbst übergriffig? Quintana bezieht das nicht nur auf sexuelle Verhältnisse, sondern auf alle sozialen Kontexte, auf Familien- wie auf Freundeskreise. Gerade dort, wo Gewalt nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen ist – weil sie zwischen Vertrauten stattfindet, weil die Situation vermeintlich nicht so eindeutig ist – muss umso genauer hingeschaut werden.
Eine Verletzung – nämlich die des Rechts auf Selbstbestimmung – findet zum Beispiel dort statt, wo das Foto einer Person ohne ihr Einverständnis in den sozialen Medien gepostet wird. Was in mehrfacher Hinsicht Bildstörung und Kontrollverlust bedeutet, wie in „SELFIE“ beschrieben.
Im Stück heißt es einmal, dass von jedem Menschen drei Versionen existierten. „Die, wofür dich alle halten“. Diejenige, „die du am liebsten wärst“. Und schließlich: „Das echte Du. Was auch immer das heißt“. Damit, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Außendarstellung und Innenleben in Einklang zu bringen, sind die meisten ein Leben lang beschäftigt. Ganz zu schweigen davon, den eigenen wahren Kern aufzuspüren. Aber niemandem darf unterwegs die Deutungshoheit über das eigene Bild, über die eigene Geschichte genommen werden. So wenig, wie Zweifel als Reaktion angebracht sind, wenn eine Überlebende von sexualisierter Gewalt ihre Erfahrungen mitzuteilen versucht. Selbst wenn sie im Dunkel der Erinnerung liegen, wie bei Emma in „SELFIE“.
Eine der großen Stärken der Inszenierung von Regisseurin Maria Lilith Umbach ist ihr Gespür für die Uneindeutigkeiten, mit denen Christine Quintana im Stück einen klaren Fall umstellt: eine junge Frau hatte gegen ihren Willen Sex. No consent. Daran ändert der Umstand nichts, dass der Täter, Chris, in der Dramatis personae als „Ein guter Typ“ geführt wird und auch so auftritt. Als einer, der mit zerknautschtem Blumenstrauß und zerknirschtem Gesicht noch nach der Tat für sich zu werben versucht. Und die Tatsache, dass Emma selbst auf ihrem Instagram-Account ein zweifelhaftes Spiel mit Schein und Wirklichkeit gespielt hat, gibt ihrer Freundin Lily nicht das Recht, ein Kuss-Foto zu verbreiten, das die Wahrheit mit einer Lüge überblendet.
„SELFIE“ am GRIPS – nuanciert und mitnehmend gespielt von Yana Ermilova, Lisa Klabunde und Marius Lamprecht – geht klug mit solchen Doppelbelichtungen um. Und fordert dazu auf, hinter die Bildoberfläche zu schauen.
Als die Autorin ihr Stück an einer High School mit Schüler*innen diskutiert hat, waren die Reaktionen zunächst bezeichnend. Die meisten schoben Emma die Schuld an dem Geschehenen zu: Sie hätte ja nicht trinken müssen. Sie hätte doch wissen können, was auf einer Party passieren kann. Bis eine Schülerin sagte: „Maybe we shouldn’t blame the victim“. Vielleicht sollten wir nicht das Opfer verantwortlich machen.
„SELFIE“ – ästhetisch und musikalisch auf Augenhöhe mit dem jungen Publikum, ohne sich anzubiedern – spricht nicht zuletzt die Einladung aus, über ein wichtiges Thema ins Gespräch zu kommen und im Austausch zu bleiben, bis die letzte Unklarheit beseitigt ist. Richtig von Falsch zu unterscheiden, das ist schließlich (wie so vieles andere) ein lebenslanger Lernprozess. Etwas, das junge und erwachsene Menschen gemeinsam haben.
Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn des IKARUS!
„SELFIE ist unter fünf starken Inszenierungen doppelt prämiert worden. Das macht mich mehr als
doppelt glücklich. Das Stück SELFIE verhandelt sexuelle Selbstbestimmung und Konsens. Ein wichtiges Thema, über das nun endlich gesprochen werden kann. Das künstlerische Team und Regisseurin Maria Lilith Umbach hat mit unseren Schauspieler*innen eine starke Umsetzung gefunden, die Jugendliche anspricht und zum Nachdenken anregt. Es zeigt unterschiedliche Perspektiven auf einen sexuellen Übergriff sowie die Überforderung und tiefe Verletzung. Es gibt Anstoß zum Sprechen über ein tabuisiertes Thema. Danke, dass ihr die Dringlichkeit des Stück erkannt und ins Scheinwerferlicht gerückt habt.“
Philipp Harpain, Leiter GRIPS Theater
Für den IKARUS 2022 wurden insgesamt neun Inszenierungen nominiert. Vier Theaterstücke wurden von der Nominierungsjury aus dem Bereich Kindertheater (0-9 Jahre) ausgewählt und fünf Inszenierungen aus dem Bereich Jugendtheater (10-19 Jahre).
Alle nominierten Stücke haben eine herausragende Qualität und sind ausdrücklich für den Besuch empfohlen.
Tanzstück von Isabelle Schad & Offensive Tanz für junges Publikum
Regie, Choreografie und Bühne: Isabelle Schad | Musik und Live-Sound: Damir Simunovic | Licht und Künstlerische Assistenz: Emma Juliard, Arnaud Lesage | Dramaturgische Beratung jüngstes Publikum: Dagmar Domrös | Tanz und Co-Choreografie: Jan Lorys, Aya Toraiwa, Manuel Lindner
Atmosphärisch dicht zeigt das Tanzstück „Harvest“ das Einsammeln, Bündeln und wieder Verteilen von langen Weidenruten. Die Choreografie von Isabelle Schad lässt einen weiten Assoziationsraum zu, mal scheinen die Tänzer:innen von Naturkräften getrieben zu werden und mal die Ernte einzuholen. Durch die Erkundung des Materials, dem Schichten, Biegen der Gerten und Zweige bewegt sich die Inszenierung nah an der Natur. Mit einem ausgewogenen Rhythmus, ruhigen Handlungen und tänzerischen Bewegungen bietet „Harvest“ nicht nur dem jungen Publikum ein Tanzerlebnis von hoher Sinnlichkeit, Spannung und Ästhetik.
O-Ton Jury
Bewegung, Objekte, Raum, Licht und Klang ergeben eine ganz eigene, großartige Qualität. Vor den Augen der Zuschauenden entsteht im besten Sinne Kunst – was hier performt wird, verzaubert alle: vom 3-jährigen Kind bis zum Erwachsenen.
HARVEST(3+) (theater-on.de)
Musiktheater nach dem Buch von Marc-Uwe Kling
Regie:
Birga Ipsen | Komposition und Musikalische Leitung: Matthias Witting |
Bühnenbild: Linda Schnabel | Regieassistenz: Neele Hilsberg | Licht und Ton:
Kevin Paetzold, Aaron Vorpahl | Spiel: Guylaine Hemmer, Mathieu Pelletier,
Natascha Petz, Alexandra Dimitroff
Die Buchvorlage vom NEINhorn wurde unter der Regie von Birga Ipsen zu einem herrlichen Singspiel, das Kinder und Erwachsene gleichermaßen glücklich macht. Die Geschichte des süßen und doch renitenten Einhorns wird begleitet und vorangebracht von Live-Musik und mehrstimmigem Gesang, komponiert und arrangiert von Matthias Witting. Das wandelbare Bühnenbild lässt dem furiosen Spiel der Schauspieler:innen mit ihren originellen Kostümen viel Raum. Dem ATZE Musiktheater ist eine Inszenierung gelungen voll wilder Spielfreude, Komik und Humor. Ein Besuch des „NEINhorns“ wird ausdrücklich beJAht!
O-Ton Jury
Frei von vordergründig pädagogischen Ambitionen verwandeln die spielfreudigen Schauspieler:innen die Buchvorlage lustvoll in ein herrliches Spektakel – vorangebracht von perfekt arrangierter Livemusik. Ein Stück voll wilder Spielfreude und subversivem Humor!
Das NEINhorn – ATZEMusiktheater (atzeberlin.de)
Figurentheater nach dem Buch von Sven Nordqvist
Regie: Ivana Sajević | Bühnenbild, Ausstattung und Puppen: Katrin Busching | Musik: Almut Lustig | Spiel: Emilia Giertler, Björn Langhans
Beim Versteckspiel verschwindet die Schwester des kleinen Mäuserichs unauffindbar. Die Suche nach ihr verwandelt sich in eine Reise durch surreale Welten. Die Inszenierung nimmt Elemente aus der Buchvorlage und geht doch mutig ihren eigenen Weg. Das Bühnenbild von Katrin Busching, die auch die Puppen gestaltete, birgt Überraschungen und Traumwelten. Emilia Giertler und Björn Langhans führen die Puppen und Figuren meisterlich und lassen sie lebendig werden. Mit einer sehr starken visuellen Ebene und verschiedenen Erzählweisen entsteht eine herausragende, innovative und kreative Umsetzung eines komplexen Buches und Inhaltes.
O-Ton Jury
Das Weite Theater findet seinen ganz eigenen, ideenreichen Weg, die bildgewaltige Vorlage in eine herausragende Inszenierung umzuwandeln. Eine virtuose Puppenführung und ein Bühnenbild voller Überraschungen entführen das Publikum in phantastische Welten.
DasWeite Theater (das-weite-theater.de)
Figurentheater von Michael Schwager und Daniel Wagner
Regie, Text und Spiel: Michael Schwager, Daniel Wagner | Ausstattung, Bühne und Puppen: Ralf Wagner | Kostüme: Ira Storch-Hausmann | Textile Mitarbeit: Evelyne Höpfner
Als zwei Wachmänner in einem Puppentheater die Bühne mit Spielfiguren entdecken, improvisieren sie spontan ein Märchenspiel. Die Figuren- und Puppengestaltung und das Bühnenbild von Ralf Wagner in Verbindung mit der gekonnten Puppenführung von Michael Schwager und Daniel Wagner lassen die Geschichte lebendig werden. Viel Humor lässt Spannung und befreiendes Lachen abwechseln. Wie frisch und modern ein Puppentheater aktuelle Themen aufgreifen und wie selbstverständlich auf humorvolle Weise vermitteln kann, zeigen die zwei Spieler, die von den Kulissen, Figuren und Puppen eines Puppentheaters in spielende Kinder verzaubert werden.
O-Ton Jury
Im Stück werden auf komische und doch selbstverständliche Weise nicht nur Rollenbilder des klassischen Märchens gebrochen, auch die Spieler hinterfragen sich selbst. In einer märchenhaften Ausstattung hervorragend erzählt, entwickeln die beiden eine Spielfreude, die ihresgleichen sucht.
Drachenblut und Blümchenpflaster – Theater Zitadelle (theater-zitadelle.de)
Regie und Theaterfassung: Matthias Schönfeldt | Musikalische Leitung: Sinem Altan | Choreographie: Maria Walser | Sounddesign: RUSNAM | Komposition und Texte: Sinem Altan, Ilja Pletner | Bühnenbild: Frida Grubba | Kostümbild: Anna Dobis | Tanz und Spiel: Jonathan Bamberg, Irene Fas Fita, Mahalia Horvath, Jan Lorys, Ilja Pletner, Kinga Anita Ötvös, Mathilde Mensink, Balázs Posgay
Nach dem Buch „Ich bin Vincent und ich habe keine Angst“ konzipierte Matthias Schönfeldt eine Verbindung von Musiktheater, Schauspiel, Tanz- und Bewegungstheater unter der Choreographie von Maria Walser. Live-Musik aus Laptop, E-Gitarre, Gesang und Rap, gespielt und arrangiert von RUSNAM und Sinem Altan, findet ihre Umsetzung in der tänzerischen Qualität der Gruppe. Das drehbare Bühnenbild von Frida Grubba unterstützt die Atmosphäre des Stückes treffend. Mobbing in der Schule und sein Schrecken wird dadurch fühlbar. In einer herausragenden Inszenierung verschmelzen Musik- und Tanztheater zu einer Einheit.
O-Ton Jury
Hier stimmt alles: Musik, Tanz, Choreografie, Licht, Bühne und Spiel. Diese Inszenierung ist ein Gesamtkunstwerk, welches in die tragische Geschichte eines gemobbten Schülers hineinzieht. Das junge Publikum wird gefordert – inhaltlich und ästhetisch und dabei ernst genommen.
Ich bin Vincent und ich habe keine Angst – ATZE Musiktheater (atzeberlin.de)
Schauspiel von Zoran Drvenkar
Regie: Robert Neumann | Bühne und Kostüm: Jan A. Schroeder | Komposition und Sounddesign: Matthias Bernhold | Dramaturgie: Tobias Diekmann | Spiel: Helena Charlotte Sigal, René Schubert, Matthias Bernhold
Ungewöhnlich verknüpft das Stück „Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück“ die Themen Krieg und Demenz. Kai ist fasziniert von den Heldengeschichten seines Opas aus dem Krieg und beide spielen diese nach Opas „Erinnerungen“ nach. Doch was ist wirklich wahr? Die berührende Begegnung inszeniert Robert Neumann als intensives Kammerspiel. Helena Charlotte Sigal und René Schubert spielen glaubwürdig Enkel und Opa. Das Bühnenbild von Jan A. Schroeder setzt einfache, aber wirkungsvolle Mittel ein. Mit ungewohnten Instrumenten erschafft der Musiker Matthias Bernhold eine spannende Begleitung. Die unter die Haut gehende Inszenierung setzt in besonderer Weise zwei Erlebniswelten in Beziehung zueinander.
O-Ton Jury
Einfühlsam werden anhand der Enkel-Großvater-Beziehung Themen wie Demenz, Krieg und Wahrheit verhandelt. Neben dem großartigen Schauspiel und der musikalischen Begleitung berühren vor allem Themenwahl und -verbindung – zeitlos und doch hochaktuell.
Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück - GRIPS Theater (grips-theater.de)
Tanztheater von Grichka Caruge
Choreografie: Grichka Caruge und Ensemble | Dramaturgie: Livia Patrizi | Musik: Igor Stravinsky | Bühne und Kostümbild: Silvia Albarella | Lichtdesign: Arnaud Poumarat | Tanz: Luka Austin Seydou, Solomon Quaynoo, Rochdi Alexander Schmitt, Mark Sheats, Émilie Ouedraogo Spencer
Mit dem Tanzstück „A Human Race“ bringt TANZKOMPLIZEN mit Krump einen Tanzstil aus der afro-amerikanischen Community aus Los Angeles choreografisch auf die Bühne. Der Tanzstil der Straße trifft auf der Bühne auf sogenannte Hochkultur: Igor Stravinskys „Le Sacre du Printemps“. In Solos, Duetten und Gruppenkonstellationen entstehen Bilder von Kraft, Selbstbewusstsein und Emanzipation. Das klare Bühnenbild von Silvia Albarella unterstreicht die Herkunft des Tanzstils . Er lässt als Deutung das Gegensatzpaar Innen und Außen zu, eine Trennung, die mit dem Fortschreiten der Tanzinszenierung aufgelöst wird. „A Human Race“ bietet Jugendlichen eine große Andockmöglichkeit, menschliches Miteinander zu erleben.
O-Ton Jury
Mit tänzerischen und musikalischen Mitteln werden bei „A Human Race“ komplexe Themen wie Opferrollen, Wettkampf, Ausgrenzung, Befreiung und Miteinander in den Raum gestellt. Entstanden ist eine enorm starke Performance, die viel wagt und ausprobiert.
Englischsprachiges Schauspiel von Charlie Dupré
Regie: Rebecca Scott | Dramaturgie: Makisig Akin, An*dre Neely, Fiona Power Klassen | Kostüm und Requisiten: Marjan Boukes | Komponist und Sounddesign: Rob Atkinson | Lichtdesign: Claudine Castay | Bühnenbild: Leif-Erik Heine | Video: Julia Patey | Sprachschauspieler: George P. Scott | Videoschauspielerin: Judith Shoemaker | Spiel: Adrian Blount, Josh Spriggs
Ros, 17 Jahre, erforscht sich selbst durch die Online-Identität „G“ in Social-Media-Welten. Wegen des Lockdowns findet der neue Mitschüler Lanny keine Freunde. Beide tauschen sich über Online-Plattformen aus und finden sich über ihre gemeinsame Leidenschaft, die Musik. Weil Lanny im Angesicht von Diskriminierung nicht für Ros eintritt, wird die Freundschaft abrupt beendet. Als Schnittstelle für die Online- mit der Offline-Welt beherrscht ein monumentales Handy das auch technisch beeindruckende Bühnenbild von Leif-Erik Heine. In der Regie von Rebecca Scott spielen Adrian Blount und Josh Spriggs die Jugendlichen sehr authentisch. Am Verhältnis von Ros und Lanny diskutiert die herausragende Inszenierung „iTalk“ lebensecht und intensiv sehr aktuelle Themen zu Rassismus, Genderidentitäten, Selbstinszenierung, Mobbing und Freundschaft, die uns alle betreffen.
O-Ton Jury
Jugendlich frisch und komplett im Hier und Jetzt
macht „iTalk“ die Lebenswirklichkeit und Nöte von Jugendlichen in Zeiten einer
weltweiten Pandemie und wachsender medialer Welten spürbar, die um
Freundschaften und Wahrheiten ringen und dabei eigene Wege finden.
iTalk | PLATYPUS THEATER (platypus-theater.de)
Schauspiel von Christine Quintana
Regie:
Maria Lilith Umbach | Bühne und Kostüme: Lea Kissing | Kostüme: Merle Richter |
Musik: Frieder Hepting | Video: Alexander Merbeth | Dramaturgie: Tobias
Diekmann | Übersetzung: John Birke | Spiel: Lisa Klabunde, Yana Ermilova, Marius
Lamprecht
Mit „Selfie“ unter der Regie von Maria Lilith Umbach erreichen die Themen sexuelle Selbstbestimmung sowie sexueller Konsens das Jugendtheater. Verliebtheit, ein erster Kuss, doch nach einer Party wächst bei Lily der Verdacht, dass der Bruder ihrer besten Freundin ihre Betrunkenheit ausgenutzt hat. In der herausragenden Inszenierung wird von den Schauspieler:innen Lisa Klabunde, Yana Ermilova, und Marius Lamprecht berührend die ganze Bandbreite der ausgelösten Gefühle sowie die Auswirkungen des Übergriffs auf die Freundschaften dargestellt. Das Bühnenbild von Lea Kissing nimmt die Ästhetik der Sozialen Medien perfekt auf. Differenziert wird das Thema des sexuellen Missbrauchs behandelt. Dabei bleibt die Inszenierung in der Lebenswelt und Sprache der Jugendlichen, ohne diese bloßzustellen.
O-Ton Jury
Perfekt gespielt und einfühlsam erzählt, wirft „Selfie“ Fragen zu sexueller Selbstbestimmung und geteilten Lebenswelten auf, ohne scheinbar richtige Antworten zu liefern. Eine Inszenierung, die unter die Haut geht und ins Gespräch bringt.
SELFIE - GRIPS Theater (grips-theater.de)
Im IKARUS-Programmheft informieren wir euch über die aktuellen Spieltermine der nominierten Stücke bis März 2023. Hier findet ihr auch Kurzauszüge aus den Jurybegründungen für die Nominierungen sowie Informationen zu den einzelnen Jurys und der Geschichte des IKARUS. Das Programmheft gibt es auch noch in analoger Form. Bei Interesse bitte eine Mail an ikarus@jugendkulturservice.de senden.